Gespräch über das Wichtigste

TEIL 1 (März 2013)

PRIMUS. Wir wollen miteinander über das Wichtigste reden. Welches Thema könnte wichtiger sein! Aber wir fragen erst nach dem Wichtigsten. Auf das, was das Wichtigste ist, wollen wir uns erst verständigen. Vieles ist wichtig; nur eines kann das Wichtigste, das heißt am allerwichtigsten sein. Bei einer Umfrage dürften viele aus dem Handgelenk ihre Antwort geben, weil für sie auf der Hand liegt, was das Wichtigste ist. Auch wir beide benennen womöglich das Allerwichtigste ohne Umschweife, weil es uns sonnenklar vor Augen steht. Ist es so? Kannst du es ohne weiteres sagen? Dann sag es nur frei heraus: Was ist das Wichtigste? (100/624)

SECUNDUS. Das frage ich mich auch. Mir gehen verschiedene mögliche Antworten durch den Kopf: Gesundheit, Frieden, Liebe, Geld, Ehre, um nur fünf von vielen mehr oder weniger "heißen Kandidaten" zu nennen. Unter den genannten ist mein persönlicher Favorit übrigens die Liebe. Aber über eines bin ich mir noch nicht im Klaren, nämlich darüber, was hier Wichtigkeit bedeuten soll. Solange wir das nicht eindeutig festlegen, ist die Frage nach dem Wichtigsten mehrdeutig und deshalb nicht klar zu beantworten. Was genau meinen wir mit Wichtigkeit, wenn wir nach dem Wichtigsten fragen, nach dem, was wichtiger ist als alles andere? Was verstehst du darunter? (100/646)

PRIMUS. Von der Gesundheit sagt man oft, sie sei nicht alles, aber ohne sie sei alles nichts. Und in der Bibel (Matthäus 16,26) steht: "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?" So scheint vieles begehrenswert zu sein, aber nicht um jeden Preis. Das Begehrenswerteste für das Wichtigste zu halten, kommt mir daher widersinnig vor. Wirklich wichtig kann nur etwas sein, das man um keinen Preis verlieren will, etwas Unverzichtbares. Das Wichtigste wäre demnach gleichzusetzen mit dem Notwendigsten. Alles Notwendige wiegt sozusagen am schwersten. Oder hast du einen anderen Vorschlag? (100/632)

SECUNDUS. Ich lasse mich gern auf dein Verständnis von Wichtigkeit ein, das du an den Beispielen Gesundheit und Seelenheil gut belegt hast. Aber wenn etwas notwendig ist, dann ist es immer voll und ganz notwendig, niemals mehr oder weniger. Ein Notwendigstes, das notwendiger als alles andere wäre, ist folglich ein Unding. Wenn wir also nach dem Wichtigsten als dem Notwendigsten fragen, fragen wir ins Leere. Es gibt kein Allerwichtigstes, weil es kein Allernotwendigstes gibt, sondern nur vieles gleichermaßen Notwendige. Oder wir antworten: Nicht ein Allernotwendigstes, sondern alles Notwendige ist das Wichtigste. Alles nicht Notwendige ist demzufolge weniger wichtig. Bist du einverstanden? (100/687)

PRIMUS. Einerseits ja, andererseits nein. Ja, weil mir das, was du über das Notwendige sagst, logisch erscheint. Grundsätzlich sagst du ja nur: Was sein muss, muss sein. Dieser Grundsatz ist über jeden Zweifel erhaben. Aber eine Anwendung dieses Grundsatzes ist Martin Luthers Wort: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Luther wusste um die notwendige Konsequenz seines Protests: dass ihm die etablierte Kirche das Leben schwer macht. Aber von seinem großen Reformanliegen ließ er sich durch den hohen Preis dafür nicht abbringen. Hier stand eine Notwendigkeit gegen die andere. Möchtest du nun immer noch alles Notwendige über einen Kamm scheren? (100/643)

SECUNDUS. Die theoretische Logik möchte ich auf sich beruhen lassen und stattdessen die praktische Frage, die wir in diesem Gespräch beantworten wollen, wie folgt umformulieren: Was ist so wichtig, dass Menschen bereit sein können, dafür die größten Nachteile in Kauf zu nehmen? Oder persönlicher gefragt: Was ist mir so wichtig, dass ich dafür die größten Nachteile in Kauf nähme? Oder allgemeingültiger gefasst: Was ist so wichtig, dass man dafür die größten Nachteile in Kauf nehmen soll? Oder gar nicht gefragt, sondern geantwortet: Das Wichtigste ist das, wofür man die größten Nachteile in Kauf nehmen soll. Ist diese Antwort in deinem Sinne? (100/640)

PRIMUS. Ganz und gar ist sie in meinem Sinne dann, wenn wir sie gegen Missbrauch absichern. Der praktische Grundsatz, den sie darstellt, enthält nämlich ein Wort, das schon für die Rechtfertigung vieler Schandtaten herhalten musste: das Stichwort Sollen. Kein Sollen ohne Gebieter. Praktische Grundsätze sind Gebote. Den Geboten welchen Gebieters sollen wir folgen? Hier sind wir am springenden Punkt: Wen fragen wir das? In aller Herren Länder sind die Völker daran gewöhnt, sich an die gerade geltenden Gesetze zu halten. Kann es jenseits von einsamen Herrscher- oder demokratischen Mehrheitsbeschlüssen ein Gesolltes geben, das wir zutiefst auch wollen können? Was denkst du? (100/670)

SECUNDUS. Ich denke, ein herangereifter Mensch ist gut beraten, wenn er sich weder einreden lässt, was er "im Namen von Gott, Volk und Vaterland" soll, noch was sein "tiefster eigener" Wille ist. Er mag erwägen, welche Nachteile er in Kauf zu nehmen bereit ist, wenn er tut und lässt, wonach ihm der Sinn steht. Das Wichtigste für einen Helden ist dem, der nicht zum Helden geboren ist, nun einmal unwichtiger. So bin ich zufrieden mit der folgenden Beantwortung unserer Frage: Das Wichtigste ist jedem Menschen das, wofür er größere Nachteile als für anderes in Kauf zu nehmen bereit ist. Und du? (100/591)

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